Redebeitrag von Dr. Norbert Lammert anlässlich der Debatte um das Kunstwerk „Der Bevölkerung“ von Hans Haacke.

  • Portrait von Dr. Norbert Lammert

    Dr. Norbert Lammert

    Dr. Norbert Lammert ist seit 1980 Bundestagsabgeordneter. Zum Zeitpunkt der Debatte war er Kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU. Seit 2005 ist er Bundestagspräsident.

Redner 1 | Dr. Norbert Lammert

Vizepräsidentin Petra Bläss:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Ulrich Adam, Ilse Aigner sowie weiterer Abgeordneter
Kunstprojekt im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes von Hans Haacke „Der Bevölkerung“
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Dr. Norbert Lammert.

Dr. Norbert Lammert:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag führt heute eine Debatte, die vermutlich in keinem anderen Parlament der Welt stattfinden würde.
(Beifall bei der CDU/CSU)

Weder der amerikanische Kongress noch das englische Unterhaus und schon gar nicht die französische Nationalversammlung würde auch nur darüber diskutieren, was hier heute ernsthaft zur Entscheidung ansteht: der Widmung des Reichstagsgebäudes „Dem Deutschen Volke“ eine künstlerisch politische Installation entgegenzusetzen, die „Der Bevölkerung“ gewidmet ist. Das Reichstagsgebäude ist dem deutschen Volke gewidmet und damit dem Souverän, den dieses Parlament vertritt und von dem es seine Legitimation bezieht. Für diese Widmung – 1916 nach jahrelangem Widerstand des Kaisers an diesem Gebäude angebracht – muss sich niemand rechtfertigen. Sie ist nicht überholt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch der Abg. Monika Griefahn [SPD])

Es hat in den vergangenen Wochen der Auseinandersetzung manche goldenen Worte gegeben, die hoffnungslos richtig sind, aber alle messerscharf neben der Sache liegen, dass man nämlich über Kunst nicht mit der Mehrheit entscheiden könne – ebenso wenig wie über Wahrheit. Das ist sicher wahr.
Ob es sich bei dem Projekt von Hans Haacke um ein bedeutendes Kunstwerk handelt oder nicht, mögen andere in Ruhe entscheiden. Es ist übrigens auch unter Experten hoch umstritten. Der Bundestag muss entscheiden, ob er dieses Werk in diesem Gebäude in Auftrag geben will oder nicht: nicht mehr und nicht weniger.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist absurd, dem Bundestag die Legitimation für diese Entscheidung bestreiten zu wollen. Bei aller Begeisterung und Empörung über das künstlerisch-politische Projekt Haackes ist offenkundig, dass der Deutsche Bundestag als Auftraggeber und niemand sonst zu entscheiden hat, ob er diesen Vorschlag realisieren will oder nicht. Er kann und darf sich in dieser Verantwortung hinter niemandem verstecken. Die Absicht, über die Empfehlung des Kunstbeirates des Bundestages im Unterschied zu anderen Aufträgen – ich bin sehr dafür, dass das die Ausnahme bleibt, damit wir hier keine Missverständnisse bekommen
(Zurufe von der SPD: Oh!)

Lassen Sie mich doch in Ruhe begründen, warum. Vielleicht haben Sie über den Unterschied dieses Projektes noch gar nicht hinreichend nachgedacht.
(Zuruf von der SPD: Doch! Doch!)

Es gibt nicht nur vernünftige, sondern aus meiner Sicht zwingende Gründe, warum diese Entscheidung im Plenum des Deutschen Bundestages und nicht in irgendeinem anderen Gremium getroffen werden muss.
Erstens. Nach der Projektbeschreibung des Künstlers kann die Installation nur durch Mitwirkung der Mitglieder des Parlamentes verwirklicht werden. Wenn die persönliche Mitwirkung von 669 Mitgliedern des Bundestages konstitutiver Bestandteil des Projektes ist, wird man diese wohl fragen müssen, ob sie zur Mitwirkung bereit sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. In der Sache geht es Hans Haacke und den Befürwortern seines Entwurfes um die Auseinandersetzung zwischen der historischen Widmung des Reichstagsgebäudes aus den schwierigen Anfangsjahren des deutschen Parlamentarismus und dem heutigen Selbstverständnis eines von autoritärer Bevormundung emanzipierten Parlaments. Diese Auseinandersetzung ist gewiss zulässig. Ob allerdings das vorgeschlagene Projekt für diese Auseinandersetzung innerhalb und außerhalb des Parlamentes geeignet ist, darüber darf und muss man streiten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Streit ist übrigens von Hans Haacke offenkundig gewollt. Deswegen kann doch nicht ernsthaft beanstandet werden, dass dieser Streit nun stattfindet; schon gar nicht kann beanstandet werden, dass er im Parlament ausgetragen und entschieden wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die im wörtlichen wie im übertragenen Sinne künstliche Gegenüberstellung von Volk und Bevölkerung wird weder dem Volk noch der Bevölkerung gerecht, schon gar nicht der sinnvollen Auseinandersetzung mit diesem sensiblen Sachverhalt. Die Volksvertreter, die in diesem historisch gezeichneten Parlamentsgebäude ihr Mandat wahrnehmen, verstehen sich längst – auch ohne diese Aufforderung – als Vertreter aller Menschen in diesem Land,
(Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

dank einer Verfassung, in der sich „das Deutsche Volk“ – ich zitiere und wiederhole: „das Deutsche Volk“ – „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennt. Dafür brauchen wir von niemandem Nachhilfeunterricht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wer wie Hans Haacke den Begriff „Volk“ unter nationalistischen, mindestens mythologischen Generalverdacht stellt, bleibt bewusst oder leichtfertig hinter dem Selbstverständnis unserer Verfassung und dieser Volksvertretung zurück. Er darf nicht erwarten, in diesem Zusammenhang ausgerechnet mit einer Bodeninstallation deutscher Erde aufklärerisch oder befreiend zu wirken.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dass sich der Deutsche Bundestag diese atemberaubende Verbindung von Volk und Erde, Boden und Bevölkerung zu eigen macht, ist geradezu abwegig.
Ich persönlich halte den Konzeptvorschlag Hans Haackes politisch wie ästhetisch für misslungen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Aufwand, mit dem er nach seiner Projektbeschreibung „der Bevölkerung“ Gerechtigkeit; – jedenfalls Aufmerksamkeit widerfahren lassen will, ist monströs und, wie ich finde, eine Verballhornung des Anliegens. Nachdem Haacke in seiner Projektbeschreibung für den „Antransport der Erde“ jedem einzelnen Abgeordneten – ich zitiere aus der Projektbeschreibung – „zwei mit ihrer Bestimmung beschriftete Halbzentnersäcke“ zur Verfügung stellen will,
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

bei deren Übergabe die Abgeordneten – ich zitiere erneut – „urkundlich erklären, von welcher Stelle die Erde stammt“
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Jetzt wird es aber schwach!)

– es ist in der Tat immens schwach, Herr Kollege Heinrich; wir müssen deshalb wissen, über was wir hier abstimmen -,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

es wird sich sicher auch für den Abtransport beim Ausscheiden aus dem Bundestag eine ähnlich überzeugende Lösung finden lassen.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

Ein Leserbriefschreiber hat vor einigen Tagen angeregt, der Künstler solle entsprechende Holztröge in die Wahlkreise schaffen, darüber die Neoninschrift „Den Bevölkerungsvertretern/ -vertreterinnen“. Die Verwandlung von Konzeptkunst in eine skurrile „Bundesgartenschau“ ist kein großer Wurf, sondern eine große Albernheit, die der Ernsthaftigkeit nicht gerecht wird, die dieses Thema verdient und beansprucht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Das Bedürfnis des Künstlers nach Selbstinszenierung ist legitim; es ist in diesem konkreten Fall offensichtlich ausgeprägter als das Interesse an Aufklärung. Insofern sieht das Konzept folgerichtig vor, dass auf allen Etagen des Reichstagsgebäudes Tafeln anzubringen sind, auf denen die Abgeordneten mit ihrer Parteizugehörigkeit und den Wahlkreisen oder Bundesländern und der Angabe des Datums, an dem die Abgeordneten ihren Erdanteil beigesteuert haben, verzeichnet werden sollen.
(Lachen bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ist das Ernst?)

– Das stammt alles aus der Projektbeschreibung.
Da in Zeiten der neuen Medien ein Kunstwerk ansonsten offensichtlich nicht komplett ist, hat es selbstverständlich auch eine Internet-Perspektive. Vorgesehen ist, dass im Innenhof eine Videokamera angebracht wird, die regelmäßig das Wachsen und Werden dieses Kunstwerks begleitet, damit jeden Tag ab 12 Uhr mittags den Besuchern auf einer ständig aktualisierten Website die Entwicklung dieses Projekts nahe gebracht werden kann. Welcher Aufwand für welche Einfalt!
(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich persönlich finde diese Inszenierung albern und unangemessen, und ich nehme für mein Urteil die gleiche Freiheit in Anspruch, die ich dem Künstler selbstverständlich für sein Konzept zubillige.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist ihm unbenommen, die Einwände seiner Kritiker, insbesondere aus der Unionsfraktion des Bundestages, für „blödsinnig“ zu erklären, wie Agenturen melden. Mir bleibt es unbenommen, das vorgeschlagene Konzept als Zumutung zu bezeichnen und meine Mitwirkung abzulehnen. Hier steht nicht die Freiheit der Kunst zur Debatte und hoffentlich auch nicht die Freiheit des Bundestages, den künstlerischen Gestaltungsvorschlag für sein Parlamentsgebäude anzunehmen oder abzulehnen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich seit Jahren mit Leidenschaft für die Selbstverständlichkeit werbe, dass die Kunst sich mit Politik und die Politik sich mit Kunst befassen muss.
(Wolfgang Thierse [SPD]: Aber wehe, sie tut es!)

Allerdings akzeptiere ich ausdrücklich nicht die Erwartung, dass die Kunst sich der Politik grundsätzlich in kritischer Auseinandersetzung, die Politik sich der Kunst dagegen vorzugsweise mit andächtiger Bewunderung zu nähern habe.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

Zensur findet nicht statt. Aber ein ästhetisches Urteil muss erlaubt sein, zumal bei einem Projekt, das auch unter den so genannten Sachverständigen allein unter ästhetischen Gesichtspunkten mindestens so viel Widerspruch wie Zustimmung gefunden hat. Die Einwände, das Plenum des Bundestages dürfe nicht über Kunst in seinem Gebäude entscheiden, lassen ein prinzipielles Misstrauen gegenüber der Politik im Umgang mit Kunst erkennen.
(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist eine Frechheit! Ich hänge mir doch zu Hause auch kein Bild hin, das ich nicht mag!)

Der Deutsche Bundestag verdient ein solches Misstrauen nicht. Ich kenne kein anderes Parlament in der Welt, das sein Gebäude statt mit einer Gemäldegalerie großer Köpfe und geschichtlicher Ereignisse demonstrativ mit zeitgenössischen Kunstwerken ausstattet. Der Deutsche Bundestag hat sich nicht für eine möglichst unauffällige, unanstößige, dekorative künstlerische Gestaltung entschieden, sondern die von ihm selbst angesprochenen Künstler aus Deutschland wie dem Ausland ausdrücklich zu einer Auseinandersetzung mit dem Parlamentsgebäude und seiner Geschichte aufgefordert. Künstler wie Gerhard Richter, Sigmar Polke, Günther Uecker, Christian Boltanski, Bernhard Heisig, Jenny Holzer und nicht zuletzt Norman Foster haben diese Herausforderung in einer Weise angenommen, die keineswegs unumstritten ist, aber jeden Streit lohnt.
In den letzten Jahren hat der Deutsche Bundestag zudem zwei denkwürdige Entscheidungen getroffen, die seiner Souveränität auch im Umgang mit ästhetischen Fragestellungen ein beachtliches Zeugnis ausstellen: Es sind die weltweit bejubelte Verhüllung des Reichstages durch Christo, die nach jahrzehntelangen vergeblichen Anläufen schließlich vom Plenum des Deutschen Bundestages möglich gemacht worden ist,
(Beifall der Abg. Hanna Wolf (München) [SPD] und Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])

und die Entscheidung für die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas, das über seine politische Bedeutung hinaus auch eine höchst anspruchsvolle ästhetische Form durch das Stelenfeld von Peter Eisenman finden soll, die ganz gewiss nicht am viel beschimpften Publikumsgeschmack orientiert ist. Ich persönlich habe übrigens für beide umstrittenen Entscheidungen sehr engagiert gefochten;
(Wolfgang Thierse [SPD]: Sie persönlich ja!)

und ich nehme mir nun ganz selbstverständlich das Recht, meine Auffassung in dieser Angelegenheit ebenso engagiert zu vertreten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Es gibt nicht nur eine Anmaßung der Politik gegenüber der Kunst, die nicht toleriert werden darf; es gibt gelegentlich auch eine Anmaßung ausgewiesener wie selbsternannter Kunstsachverständiger gegenüber der Öffentlichkeit, mit der autoritären Gebärde von Hohepriestern das eigene ästhetische Urteil für das einzig mögliche zu halten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die anstehende Entscheidung des Bundestages über ein ebenso diskussionswürdiges wie diskussionsbedürftiges künstlerisches Projekt in seinem Hause ist ein Anwendungsfall nicht nur für die Freiheit der Kunst, sondern auch für die Souveränität dieses Parlaments. Sie hat nicht nur etwas mit der gelegentlich strapazierten Würde des Hohen Hauses zu tun, sondern auch und vor allem mit der Würde der Menschen, die wir in diesem Hause zu vertreten haben und die wir nicht als „Volk“ und „Bevölkerung“ gegeneinander in Stellung bringen lassen dürfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Ich habe heute in der Post die Zuschrift eines mir unbekannten Lehrers und Historikers gefunden, die wohl auch an den Herrn Bundestagspräsidenten gegangen ist. Er schreibt mir: „Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte kann nicht so geschehen …, dass die deutsche Volksvertretung sich in ihrem eigenen Haus mit eigener Zustimmung lächerlich machen lässt …“.
Wir haben Anlass, diese Besorgnis ernst zu nehmen, und wir haben die Möglichkeit, sie mit unserem Votum gegenstandslos zu machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der Abg. Hanna Wolf (München) [SPD])

Vizepräsidentin Petra Bläss:
Es spricht jetzt der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.