Wolfgang Thierse
Wolfgang Thierse war 1990 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages. Zum Zeitpunkt der Debatte war er Präsident des Deutschen Bundestages.
Wolfgang Thierse:
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kunst ist Freiheit. Das ist ihr inneres Wesen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie lässt Unterschiede zu, lädt ein zu Streit, zur Diskussion, zur Subjektivität und zur Artikulation unseres je eigenen Geschmacks, Empfindens, Fühlens und Denkens. Deshalb ist unterschiedliches ästhetisches Urteil legitim, sind gegensätzliche Meinungsäußerungen selbstverständlich, auch von Politikern und natürlich auch von Parlamentariern. Aber, lieber Kollege Lammert, lieber Kollege Kauder, warum müssen sie mit dieser schneidenden Schärfe ausgetragen werden?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
Frau Kollegin Vollmer, wenn Sie die Aufrüstung beklagen – wer hat sie betrieben? Unterschiede, Meinungsverschiedenheiten in Kunstfragen sind also normal und angemessen, gerade auch dann, wenn Sie, wenn wir vom Künstler ausdrücklich zum Mittun eingeladen sind. Es ist also durchaus legitim, wenn sich das Plenum des Deutschen Bundestages mit diesem Projekt befasst, zumal der Bundestag als Auftraggeber fungiert.
Was aber soll nach welchen Kriterien heute entschieden werden? Das ist die eigentliche Frage. Wir entscheiden darüber, ob ein Kunstprojekt verwirklicht wird oder nicht. Ich will Ihnen gestehen, dass auch ich zwiespältige Empfindungen bei diesem Projekt habe, viele Argumente dafür und dagegen nachvollziehbar finde. Die Erdemetaphorik halte ich für problematisch. Darüber habe ich mit Hans Haacke gestritten. „Wir sind das Volk“ haben wir Ostdeutschen 1990 gerufen und nicht „Wir sind die Bevölkerung“. Auch das habe ich dem Künstler im Kunstbeirat entgegengehalten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Was für eine Entscheidung treffen wir heute? Eine ästhetische Entscheidung? Ja, selbstverständlich. Auch diejenigen, die betonen, dass sie eine politische Entscheidung treffen, werden doch nicht bestreiten, dass sie über das Schicksal eines Kunstprojektes entscheiden und dass damit ein politisches Gremium, wie es das Plenum des Bundestages nun einmal ist, über ein Kunstprojekt entscheidet. Vor dieser Entscheidung dürfen sie sich nicht drücken.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Nun gehört es aber zu den kostbaren Vorzügen unserer Demokratie – das möchte ich Ihnen zu bedenken geben -, dass in ihr eine beträchtliche Sensibilität gegenüber den misslichen, den inkommensurablen politischen Entscheidungen über Kunst gewachsen ist. Wie sähe die Kunstgeschichte aus, hätte das Entstehen von Kunstwerken jeweils von mehr oder minder politischen Mehrheitsentscheidungen von Gremien abgehangen?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS und des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])
Stellen Sie sich bitte diese Kunstgeschichte einmal vor!
(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Was folgt für das konkrete Projekt daraus?)
Wenn Sie mir erlauben, möchte ich noch eine Bemerkung hinsichtlich meiner DDR-Erfahrung machen. Dort haben politische Gremien ständig über Kunst entschieden. Ich will nichts gleichsetzen – wahrlich nicht. Aber diese Erfahrung hat mich überempfindlich gemacht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS und des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])
Weil der Bundestag ein Empfinden für die Unangemessenheit politischer Entscheidungen über Kunst hatte, hat er sich ein eigenes Gremium, den Kunstbeirat, geschaffen, in dem Abgeordnete und Kunstsachverständige intensiv miteinander und mit den Künstlern diskutieren und dann entscheiden. Über das Haacke-Projekt hat der Kunstbeirat dreimal ausführlich debattiert und dann zweimal positiv entschieden.
Um die Revision oder um die Bestätigung dieser Entscheidung geht es. Es ist eine Entscheidung über ein Kunstprojekt mit intellektuellem, politischem Anspruch. Es ist gewiss kein Kunstwerk der Dekoration, der Verschönerung, der Harmonie, sondern ein Kunstwerk der Verfremdung. Verfremdung ist eine fundamentale Funktion von Kunst.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Das Kunstwerk beinhaltet nicht die Tilgung, nicht die Umwidmung der Inschrift „Dem Deutschen Volke“, sondern einen Kommentar, eine Anstiftung zum Nachdenken, zum Bewusstmachen unserer demokratischen Verpflichtung, wie wir gemeinsam die Widmung unseres Parlamentsgebäudes „Dem Deutschen Volke“ verstehen. Es geht darum, uns durch Verfremdung erneut bewusst zu machen, in welcher Verantwortung wir stehen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Wenn man sich, wie hier geschehen, einen Dialog zwischen Parlamentariern und Künstlern wünscht – liebe Kollegin Vollmer, Sie haben Recht -, dann sollte man den Dialog gerade nicht durch ein Nein abbrechen oder verhindern.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS und des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])
Kunst ist Freiheit. Das gilt gerade auch für Ihr Mitwirken an diesem Projekt. Es ist selbstverständlich absolut freiwillig. Das hat Haacke ausdrücklich betont. Sie werden zu nichts gezwungen, auch nicht zum Herbeitragen von Heimaterde.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Der erklärende Text des Künstlers ist nicht Teil des Kunstwerkes. Wo kämen wir in der Kunstgeschichte hin, wenn wir uns auf Künstlertexte und nicht auf die wirklichen Kunstwerke einlassen müssten?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS und des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kunst ist Freiheit. Lassen wir sie frei! Beweisen wir jene Souveränität, die dem Bundestag im 51. Jahr seines erfolgreichen Bestehens angemessen ist! Reagieren wir nicht mit angstvoller oder heftiger Abwehr, sondern stellen wir uns dem Anspruch und Widerspruch des Kunstprojektes von Hans Haacke!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS und des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])
Vizepräsidentin Petra Bläss:
Ich schließe die Aussprache.