Redebeitrag von Dr. Rita Süssmuth anlässlich der Debatte um das Kunstwerk „Der Bevölkerung“ von Hans Haacke.

  • Portrait von Dr. Rita Süssmuth

    Dr. Rita Süssmuth

    Rita Süssmuth war von 1987 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 1988 bis 1998 Bundestagspräsidentin.

Dr. Rita Süssmuth:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute im Bundestag über das künstlerische Projekt von Hans Haacke. Ich habe keine Probleme damit, dass diese Entscheidung in den Bundestag getragen wird; denn wann immer eine Gruppe von Abgeordneten dies wünscht, geschieht es. Wir im Kunstbeirat maßen uns nicht mehr Souveränität an als im Deutschen Bundestag. Diese Frage steht für mich nicht im Streit.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn heute erklärt wird, es stehe nicht die Freiheit der Kunst in Rede, dann kann ich dem auch noch zustimmen. Hier aber es geht um eine höchst politische Entscheidung, die heute getroffen wird.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Dass das Projekt Haackes so im Streit ist, hat seine Gründe; die Erde ist dabei nur ein nachgeordnetes Problem. Es geht im Kern um die Frage, ob wir wirklich bereit sind, dem Spruch „Dem Deutschen Volke“ die Ergänzung „Der Bevölkerung“ folgen zu lassen.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

Hier meinen einige, dass das selbstverständlich sei, da Art. 3 des Grundgesetzes doch gelte. Ich frage: Wenn das so selbstverständlich ist, warum dann dieser Aufruhr?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)

Offenbar ist es überhaupt nicht selbstverständlich. Die Vielzahl der eingegangenen Briefe zeigt, wie sehr es sich um ein Politikum handelt. Glauben Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist das gute Recht jedes und jeder Einzelnen, zu entscheiden, ob er oder sie mitmachen will oder nicht. Aber in Hunderten von Briefen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – gibt es nur einen Tenor, nämlich dass das, was wir hier zulassen würden, all denjenigen, die es wollen, den Vorwurf einbringt, Verbrecher, Mörder und Verräter des Vaterlands zu sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nun kann man sagen, diese Minderheit kümmert uns nicht. Aber diese Minderheit hebt kräftig an und wirft den noch Mächtigen vor, sie seien für die Milliardenbeträge an Sozialhilfe, die wir für Ausländer und Asyl Suchende, die hier nicht hingehören, zahlen müssen, verantwortlich. Ich muss dies beim Namen nennen, weil es Grundtenor nicht nur einzelner Briefe, sondern Hunderter von Briefen ist.
(Beifall bei der SPD dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Weiter wird gefragt, ob diejenigen, die zugestimmt hätten, nicht sowieso geisteskrank oder von allen guten Geistern verlassen seien. Es wird gefragt: Sollen die Gelben, die Schwarzen, die Türken und die Zigeuner etwa auch dazu gehören? Das wäre der Verrat am Vaterland. – Dies muss man mit im Hinterkopf haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)

Es wäre gut, wenn all die Briefe, die viele von uns bekommen haben, bei einer Ablehnung des Projekts als Dokumentation an den leeren Platz des nördlichen Lichthofes gelegt würden.
(Beifall bei bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Man kann über Gras, Steine und Erde trefflich streiten. Ich verwehre es auch niemandem – dazu habe ich auch gar kein Recht -, zu erklären, der Erde würde ein bestimmter Mythos anhaften. All denjenigen, die sonst mit hohem Pathos so viel von Heimaterde sprechen, widerspricht Haacke ganz schlicht,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS und des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])

indem er sagt, es gehe ihm um ein Stück demokratischer Territorialität. Das muss nicht jeder begrüßen. Ich finde, das ist vielleicht der schwächste Teil an seinem Projekt.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt!)

Ich möchte denjenigen, die hier so laut tönen und von „Blut und Boden“ sprechen, sagen: Ich habe hohen Respekt vor der Heimaterde.
(Zurufe von der CDU/CSU)

Ja, ich habe das. Ich habe in meiner Familie selbst Vertriebene, die Tausende von Kilometern gefahren sind, um ein Stückchen Heimaterde zu holen, ohne dass sie revanchistisch oder mit negativen Ressentiments belegt gewesen wären.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Ich füge hinzu: Andere Völker bringen Steine an bestimmte Orte.
Wir tun heute so, als hätten wir alle damals Christo mit großem Herzen zugestimmt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS und des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])

Ich erinnere mich noch sehr gut, dass ich in der Nacht vor der damaligen Entscheidung glaubte, wir fänden im Deutschen Bundestag keine Mehrheit. Es ist anders ausgegangen. Wir reden so oft von unserer Selbstachtung und Würde. In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend zu bedenken geben: Wenn wir ein Häufchen Erde ungesehen in den Trog werfen, wird das unserer Würde weniger schaden als manche Debatte, die im Deutschen Bundestag abläuft.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS und des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])

Vizepräsidentin Petra Bläss:
Es spricht jetzt die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.