Das Kunstwek

Die Projektbeschreibung des Künstlers
Auf Einladung des Bundestages präsentierte Hans Haacke 1999 das Kunstprojekt für den nördlichen Lichthof des Rechstagsgebäudes
Im Reichstagsgebäude strahlen im nördlichen Lichthof in weißen Leuchtbuchstaben die Worte »DER BEVÖLKERUNG« in den Himmel. Die in der Längsachse des Hofes auf dem Boden liegenden, ca. ein Meter hohen Buchstaben sind vom Plenarsaal des Bundestages aus von Westen nach Osten zu lesen. Den Besuchern auf dem Dach des Gebäudes leuchten sie aus der Tiefe des Hofes entgegen. Als Schriftvorlage dient die Inschrift »DEM DEUTSCHEN VOLKE« im Giebel des Reichstagsgebäudes.

Alle Abgeordneten des Bundestages sind eingeladen, aus ihren Wahlkreisen oder den Ländern, in denen sie als Listenkandidaten gewählt wurden, einen Zentner Erde in den Lichthof zu bringen. Diese Erde aus 669 verschiedenen Gegenden der Bundesrepublik stammende Erde wird um die Leuchtbuchstaben herum in einen Holztrog ausgestreut.
Samen und Wurzeln aus den jeweiligen Herkunftsorten sowie Berliner Flugsamen sind von Natur aus in die nach Berlin mitgebrachte Erde eingebettet. Sie sollen sich frei, ohne gärtnerischen Eingriff, entfalten. Beim Ausscheiden von Abgeordneten kann eine ihrem eingebrachten Anteil entsprechende Erdmenge entfernt werden, falls dies das begrenzte Fassungsvermögen notwendig macht.
Neu gewählte Parlamentsmitglieder sind ebenfalls eingeladen, ihrerseits einen Beitrag zum Erdvolumen und damit zur Vegetation im Lichthof zu leisten. Der Wachstumsprozess und die dem Rhythmus der Legislaturperioden entsprechende Zuführung und gelegentliche Wegnahme von Erde dauern an, solange demokratisch gewählte Volksvertreter*innen im Reichstagsgebäude zusammentreten.
Zur Gewährung größtmöglicher Öffentlichkeit werden Informationen der Teilnehmenden und ihrer Erdbeiträge zusammen mit einem aktuellen Foto des Hofes auf einer dafür eigens eingerichteten Website zugänglich gemacht. Eine statisch auf den Hof gerichtete Kamera mit ISDN-Anschluss ist programmiert, alle zwei Stunden eine Aufnahme zu machen und die Aufnahme von 12:00 Uhr mittags auf der täglich aktualisierten Website zu zeigen. So entsteht in einer die Website unterstützenden Datenbank ein ständig wachsendes Bildarchiv, das die Veränderungen im Hof gleichsam im Zeitraffer verfolgen lässt. Den Abgeordneten, die einen Beitrag zur Erde im Innenhof geleistet haben, wird auf der Website die Möglichkeit geboten, mit einem Link eigene Texte und Bilder zu präsentieren.
Text: Hans Haacke, Projektbeschreibung 1999 (Auszug)

Die Entscheidungsfindung im Bundestag
Als der Deutsche Bundestag Hans Haacke einlud, ein Kunst-am-Bau-Projekt für den nördlichen Lichthof des renovierten Reichstags zu entwickeln, ahnte niemand, welche politische Dynamik das Konzept entfesseln würde.
Am 2. November 1999 präsentierten Haacke und sein Projektpartner Oliver Schwarz dem Kunstbeirat ihr Modell für DER BEVÖLKERUNG – und erhielten eine klare Zustimmung: neun Stimmen dafür, eine dagegen. Doch diese eine Gegenstimme hatte Folgen.
Volker Kauder, der als einziges Mitglied im Beirat dagegen votiert hatte, gab seine Ablehnung und die Entwurfsunterlagen an die Presse weiter. Damit begann eine öffentlich geführte Debatte über die vermeintlich provokanten Aspekte des Projekts. Plötzlich stand ein Kunstwerk im Zentrum einer Auseinandersetzung über praktizierte Demokratie, Symbolpolitik und Grenzen der Kunstfreiheit.
Der Druck wuchs so stark, dass der Ältestenrat eine erneute Abstimmung im Kunstbeirat verlangte. Am 25. Januar 2000 bestätigte das Gremium Haackes Konzept erneut mit deutlicher Mehrheit. Kauder blieb jedoch bei seiner ablehnenden Haltung: 178 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion brachten daraufhin einen Gruppenantrag ein, der die bereits zweimal befürwortete Realisierung stoppen sollte (Drucksache 14/2867).
Damit war die Sache endgültig politisch. Für den 5. April 2000 setzte der Ältestenrat eine Bundestagsdebatte mit namentlicher Abstimmung an. DER BEVÖLKERUNG war mit dieser unvorhersehbaren Eskalationsstufe längst mehr als ein Entwurf: Es war zu einem Prüfstein parlamentarischer Kultur geworden.



