Redebeitrag von Gert Weisskirchen anlässlich der Debatte um das Kunstwerk „Der Bevölkerung“ von Hans Haacke.

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    Gert Weisskirchen

    Gert Weisskirchen war 1976 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. Zum Zeitpunkt der Debatte war er Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion und Sprecher der Fraktionsarbeitsgruppe Außenpolitik.

Redner 2 | Gert Weisskirchen

Gert Weisskirchen:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier werden nicht die Widmungen „Dem Deutschen Volke“ und „Der Bevölkerung“ als Feindbegriffe einander gegenübergestellt, sondern beide Begriffe werden zueinander gestellt, um miteinander einen Dialog zu führen
(Lachen bei der CDU/CSU)

Über die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir künftig leben? Das will uns der Künstler sagen.
(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Worauf beruht Demokratie? Gewiss zunächst auf der Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger. Vor allem aber steht auch vor dem Volk: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Darum heißt es in der Verfassung: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, und darum heißt es dort auch, dass die Kunst frei ist.
Vor allen Wahlen und Abstimmungen beruht Demokratie also zunächst darauf, anzuerkennen, dass es nicht Abstimmbares gibt. Bislang galt bei uns die Überzeugung und der Konsens, dass über Kunst nicht abgestimmt werden kann.
(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

Dies und nichts anderes war auch der Grund, dass der Bundestag sich einen Kunstbeirat geschaffen hat. Ich sehe voraus: Sollte es hier eine Mehrheit gegen die Entscheidung des Kunstbeirates geben, dann wird dieser Kunstbeirat nicht mehr weiterleben können!
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Oh!)

Dann werden Sie sich die Frage stellen müssen, ob in dem Fall nicht der Bundestag, das Plenum, jede einzelne Kunstentscheidung selbst vornehmen muss. Das hielte ich für fatal. Wir brauchen diesen Kunstbeirat.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)

Wer entscheidet, kann irren; selbstverständlich. Das gilt aber auch für den Bundestag. Es geht hier um etwas anderes. Es geht nicht darum, ob Mehrheiten irren, sondern um die Chance, dass es ein Modell zwischen Kunstsachverständigen und dem Bundestag gibt und dass dieses Modell leben kann. Wir haben Sachverständige, die hervorragendsten, die es in Deutschland gibt, die uns beraten und die uns einstimmig gebeten haben, diesem Kunstwerk hier im Lichthof einen Platz zu geben. Wir haben uns in langen Diskussionen – fragen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen, die im Kunstbeirat Mitglied sind – intensiv damit befasst und auseinander gesetzt und uns – zwar nicht ohne Zweifel, aber dann nachher doch – mit einer deutlichen Mehrheit dazu durchgerungen. Was sagt das uns? Es besagt, dass Kunst und Demokratie natürlich eine schwierige Beziehungskiste ist. Der Künstler ist autonom. Sein Werk darf stören, ja es muss sogar stören und Eingeschliffenes aufbrechen. Sein Werk muss neues Sehen möglich machen. Er braucht nicht auf Mehrheiten Rücksicht zu nehmen. Er braucht nicht auf Sehweisen, die eingeschliffen sind, Rücksicht zu nehmen. Wir müssen das. Das ist der Unterschied. Die Demokratie darf in der Sphäre des Abstimmbaren die Mehrheitsregeln und übrigens auch den Schutz von Minderheiten nicht verletzen.
Kunst, so sagt Gadamer, die „sich nicht dekorativ dem Lebenszusammenhange einschmiegt, sondern von eigener Mitte her aus ihm heraussteht“, gefällt nicht bloß. Sie muss und darf, so Gadamer, wirken wie eine Zumutung. Ich finde, wir müssen solche Zumutungen ermöglichen und anerkennen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Diese Debatte zeigt übrigens: Hans Haacke hat den Nerv getroffen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Er hat das getroffen, worum es geht. Manche fürchten um das Selbstverständnis. Von wem? Vom Bundestag? Vom deutschen Volk? Ist unser Selbstverständnis, unser Selbstbewusstsein nicht stark genug, dass wir hier im Deutschen Bundestag auch kritischer Kunst einen Platz schaffen können?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Tun wir doch serienweise!)

Was wäre das anderenfalls für ein Selbstverständnis?
Ich vertraue dem Selbstbewusstsein frei gewählter Abgeordneter, sich dem Dialog zwischen der sich am Giebel befindenden Inschrift und dem Kunstwerk von Hans Haacke – seien Sie hier herzlich gegrüßt – zu stellen. Ein solches Selbstbewusstsein haben frei gewählte Abgeordnete.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Übrigens, das Zitat „Dem Deutschen Volke“ verweigerte der Kaiser so lange, bis er kurz vor Kriegsende bereit war, dem deutschen Volk überhaupt erst einen Wert zuzubilligen. Erst dann, kurze Zeit vor Ende des Ersten Weltkrieges, wurde diese Inschrift angebracht.
(Zurufe von der F.D.P.: Eben!)

Sie dürfen sich also nicht darauf beziehen, dass es etwa das Volk gewesen ist, das dies gefordert hat.
(Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Sozialdemokraten!)

Der Kaiser hat erst am Ende des Ersten Weltkrieges das Volk als so wertvoll empfunden, dass es hier am Giebel mit einer Inschrift seinen Platz gefunden hat.
Hans Haacke nimmt jenes Zitat auf. Er stellt das Zitat in seinem Kunstwerk mit diesem Zitat zusammen. Das ist kein Gegensatz; es gehört zusammen.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Er will es korrigieren!)

Er ergänzt es auf ebener Erde. Herr Lammert, das Behältnis ist 30 Zentimeter hoch. Blumen werden aus ihm wachsen. Frau Vollmer, was ist denn daran, bitte schön, Kitsch?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS und des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])

Willy Brandt würde gesagt haben: Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?
Sein Werk fragt uns: Wie weit fassen wir den Begriff des Bürgers? Das halte ich für eine ganz spannende Debatte. Nehmen wir das transatlantische „ius soli“ auf oder nicht? Welche Rechte und Pflichten haben Menschen nicht deutscher Nationalität, die mit uns leben? Seit dem Vertrag von Amsterdam gibt es zusätzlich zur nationalen Staatsbürgerschaft die Unionsbürgerschaft. Wollen wir denn länger leugnen, dass wir in einem Land leben, in dem es eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die nicht Deutsche sind? Mit diesen wollen wir gemeinsam leben. Genau das, genau dieses Erinnerungsmoment ständig für uns wach zu halten, das will uns der Künstler sagen und zeigen. Deswegen muss sein Kunstwerk hier seinen Platz haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Die Spannungen – Herr Kollege Lammert, so würde ich es bezeichnen – zwischen der Giebelinschrift und dem Kunstwerk von Hans Haacke machen nichts anderes deutlich, als dass es in unserer Gesellschaft eine wachsende Pluralität bzw. Vielfarbigkeit gibt. Ohne Pluralität ist Modernität nicht zu gewinnen. Ohne Toleranz wird es nie Solidarität geben. Dazu aber, zu jener Toleranz – entschuldigen Sie, dass ich das so sage -, gehört der Dialog zwischen Kunst und Politik. Wer Kunst darauf reduziert, dass sie anschmiegsam und dekorativ sein soll und nicht kritisch sein darf, der hat einen Kunstbegriff, der nicht zu unserer Gegenwart und zu unserer Auseinandersetzung gehört.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Wer hat denn diesen Kunstbegriff?)

Der Streit über Ästhetik – das kann doch gar nicht anders sein – wird immer offen bleiben. Politisch aber dürfen wir diesen Streit um die Freiheit der Kunst nicht verlieren. Wir dürfen nicht unsere Liberalität verlieren. Abgeordnete können durch Kunst auch herausgefordert werden. Sie müssen ein Ja dazu sagen, dass Kunst in unseren Räumen Platz haben kann.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wir müssen gar nichts!)

Die kritischen Künstler dürfen wir nicht verlieren. Beklagen wir nicht häufig die Distanz von Intellektuellen gegenüber der Politik? Wie ernst nehmen wir denn unseren eigenen Aufruf zum Mittun? Wir brauchen die kritischen Künstler, damit unsere Gesellschaft ständig wach und lebendig bleibt. Zu diesen Künstlern gehört auch Hans Haacke.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kunst – das ist ihre herausstechende Eigenart – durchbricht die Logik von Interessen. Die Gegenwart der Kunst kann manchmal viel realer sein als die empirische Realität, in der die Politik zu leben meint. Es ist manchmal sehr viel wichtiger, einen Anstoß zum Nachdenken, zum Überdenken eigener Positionen zu bekommen, damit Demokratie lebendig und entwicklungsfähig bleibt und sich weiterentwickeln kann. Das ist es, was Hans Haacke uns deutlich machen will. Deswegen wünsche ich mir, dass wir eine Mehrheit für Hans Haackes Projekt haben. Sagen Sie Ja dazu, dass „Dem Deutschen Volke“ die „Bevölkerung“ zugesellt wird. Diese Begriffe sind nicht als Gegensatz, sondern in Beziehung miteinander zu sehen. Es ist ein ständiger Denkanstoß der Kunst, niemals zu vergessen: Unsere Verantwortung gilt allen Menschen, die in Deutschland miteinander leben, ob sie Deutsche sind oder nicht.
In einer vergleichbaren Zeit widmete ein anderer Kaiser in Wien einem Haus der Kunst die Worte: „Der Zeit die Kunst, der Kunst die Freiheit“. Sorgen Sie dafür, dass die Kunst ihre Freiheit bekommt! Sorgen Sie dafür, dass Hans Haacke seine Kunst hier im Deutschen Bundestag als ständige Auseinandersetzung mit der Gegenwart zeigen kann.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Namens von 41 Abgeordneten beantrage ich namentliche Abstimmung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Vizepräsidentin Petra Bläss:
Sie haben es gehört, der Kollege Gert Weisskirchen hat namentliche Abstimmung beantragt. In der Zwischenzeit wurden die Unterschriften von mehr als den notwendigen 34 anwesenden Mitgliedern des Bundestages zur Einforderung dieser Abstimmung vorgelegt. Deshalb möchte ich hiermit offiziell bekannt geben, dass im Anschluss an diese Debatte eine namentliche Abstimmung stattfindet.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.